Walter Brandmüller: Liturgischer Nationalismus oder Universalismus?

Seit fast zehn Jahren konnte man nirgendwo ein Missale Romanum – das offizielle lateinische Meßbuch der katholischen Kirche – mehr kaufen: Es war restlos vergriffen. Nun wurde die längst fällige Neuauflage vor kurzem dem Papst übergeben und der Presse vorgestellt. Da mochte mancher sich die Frage stellen, ob ein lateinisches Meßbuch nicht längst überholt, überflüssig sei, da es doch Meßbücher in allen modernen Sprachen gibt!
Doch, abgesehen davon, daß es für all diese Übersetzungen einer gemeinsamen Vorlage, einer gemeinsamen Originalfassung, bedarf, ist festzuhalten, was das 2. Vatikanische Konzil in seiner Konstitution „Sacrosanctum Concilium“ über die Liturgie sagt (a. 36 § 1-2): „Der Gebrauch der lateinischen Sprache soll in den lateinischen Riten erhalten bleiben, soweit nicht Partikularrecht entgegensteht. Da bei der Messe, bei der Sakramentenspendung und in den anderen Bereichen der Liturgie nicht selten der Gebrauch der Muttersprache für das Volk sehr nützlich sein kann, soll es gestattet sein, ihr einen weiteren Raum zuzubilligen, vor allem in den Lesungen und Ermahnungen, und in einigen Orationen und Gesängen …“ Und etwas weiter (art. 54): „Es soll jedoch Vorsorge getragen werden, daß die Christgläubigen die ihnen zukommenden Teile des Meßordinariums auch lateinisch miteinander sprechen oder singen können.“
Was das Breviergebet betrifft, verfügt das Konzil überdies (art. 101): „Gemäß jahrhundertealter Überlieferung des lateinischen Ritus sollen die Kleriker beim Stundengebet die lateinische Sprache beibehalten.“
Auch hier wird „in einzelnen Fällen“, und zwar für jene, die „nicht gut Latein verstehen“, der Gebrauch einer approbierten Übersetzung gestattet. Damit ist klar: Das Latein ist und bleibt die dem römischen Ritus eigene Sprache, der Gebrauch der Muttersprache ist in gewissem Umfang gestattet, keineswegs vorgeschrieben. Evident ist aber auch, daß in der Praxis – und dies in offenkundigem Widerspruch zum Willen des Konzils – die Muttersprachen das Latein zumeist verdrängt haben. Es ist überdies in weiten Kreisen, vor allem des Klerus, geradezu ein rational kaum zu erklärender Haß auf alles Lateinische zu beobachten, der nicht selten mit einem antirömischen Affekt Hand in Hand geht. Auch wird, wenn jemand es wagt, für das Latein in der Liturgie zu plädieren, sofort der Verdacht laut, man habe es mit einem „Lefèbvrianer“ zu tun, mit einem Ewiggestrigen.
Demgegenüber sei behauptet, daß wir vor einer Renaissance der lateinischen Liturgie – im Sinne des Konzils – stehen. Ein Grund hierfür ist neben anderem die vielberufene Globalisierung (die für die katholische Kirche ohnehin selbstverständlich ist), die eine fortschreitende Mobilität der Weltbevölkerung mit sich 193 gebracht hat und noch mehr bringen wird. Das heißt konkret, daß die Gottesdienstgemeinden, namentlich in den Städten, schon aus Gläubigen verschiedener Herkunft und Sprachen bestehen. Ist es da eine Lösung, daß man von einer der großen Sprachen in die andere wechselt, das Gloria deutsch, das Credo englisch, das Sanctus italienisch etc. spricht oder singt? Oder sollte gar das Englische auch zur Lingua Franca der katholischen Liturgie werden, wie Vf. dies auf Cypern und im Orient erlebt hat?
Eines ist gewiß: Die Einheit der verschiedenen Völker und Sprachen in der einen Kirche Jesu Christi bedarf des adäquaten Ausdrucks auch in der gemeinsamen liturgischen Sprache und diese ist das Lateinische. Natürlich, Lesungen, Fürbitten mögen in verschiedenen Landessprachen vorgetragen werden – über allen nationalen Eigenheiten aber macht das gemeinsame Latein die universale Einheit erlebbar. Überlegungen dieser Art drängen sich geradezu auf, wenn man an politische Situationen denkt, die durch das Zusammenleben verschiedensprachiger Bevölkerungen in einem Staatsgebiet oder in Grenzgebieten entstehen. Da gibt es slowenische Minderheiten in Österreich, ungarische in der Slowakei, deutsche in Polen, in Italien oder Rumänien. Wer weiß, wie sehr Sprache schon als Repressionsinstrument benützt wurde, wer weiß, wie sehr die Muttersprache die Identität der Person berührt, der versteht, daß mit dem Oktroy einer Nationalsprache auf anderssprachige Minderheiten ein unerschöpfliches Konfliktspotential eröffnet wird. Der Sprachenstreit zwischen Flamen und Wallonen, zwischen Basken oder Katalanen und Spaniern sind hierfür allzu bekannte Beispiele. Im Raum der Kirche jedoch darf all das keinen Platz finden. Hier darf keine Landessprache eine andere dominieren, unterdrücken.
Das Latein, das eine übernationale Sprache ist, tastet keine Muttersprache an, integriert sie vielmehr alle in einer höheren Einheit. Dies um so mehr, als die europäischen Sprachen, sieht man einmal von den slawischen ab, ihre Wurzeln im Lateinischen haben. Unabhängig von solchen Überlegungen bedarf der Kult, die Liturgie einer sakralen Sprache. Ebenso wie der Raum, das Gerät, das Gewand, der Gesang, die für den kultischen Dienst vor Gottes Angesicht bestimmt sind, sich von all dem abheben müssen, was dem Alltag zugehört, ebenso bedarf es auch einer dem Alltäglichen enthobenen Sprache. Wird dies mißachtet, ist die Banalisierung des Heiligen unvermeidlich. Eine kultische Sprache zu schaffen, ist kaum möglich: sie wird ebenso vorgefunden wie elementare Gesten und Riten der Anbetung etc. Kultisches Wort ist wie kultische Form Ergebnis eines langen Prozesses von Überlieferung. Dergestalt dem vordergründig „Heutigen“ enthoben, ist sie gerade da gefordert, wo der Mensch im Kult der Gottheit die Grenzen des Heute, der Zeit, überschreitend dem Ewigen begegnet.
Eng damit zusammen hängt die notwendige Formelhaftigkeit kultischer Sprache, wobei die Formel hier das dem subjektiven Ausdruck überlegene, allgemein Gültige ausspricht. Liturgie ist Gemeinschaftsvollzug, bei welchem das Individuelle zurücktritt. Durch den Liturgen hic et nunc frei formulierte Texte können diese Qualitäten nicht für sich in Anspruch nehmen, selbst wenn dieser – was selten genug der Fall sein dürfte – hierfür besondere Begabung besäße. Eine 194 Berufung auf den angeblichen Brauch der nachapostolischen Zeit kann aus verschiedenen Gründen nicht überzeugen.
Vor diesem Hintergrund stellt sich das Problem der Übersetzungen. Dies sei an einem einzigen Beispiel erläutert. Die Oration des 3. Adventssonntags lautet in offizieller deutscher Ve rsion wie folgt: „Allmächtiger Gott, sieh gütig auf Dein Volk, das mit gläubigem Verlangen das Fest der Geburt Christi erwartet. Mache unser Herz bereit für das Geschenk der Erlösung, damit Weihnachten für uns alle ein Tag der Freude und der Zuversicht werde.“ Dem ist nun das lateinische Original gegenüberzustellen: „Deus qui conspicis populum tuum nativitatis dominicae festivitatem fideliter expectare, praesta quaesumus, ut valeamus ad tantae salutis gaudia pervenire et ea votis solemnibus alacri semper laetitia celebrare.“
Übersetzt man nun, was der lateinische Text wirklich sagt, dann mü ßte das etwa so lauten: „Gott, du siehst, wie dein Volk das Fest der Geburt des Herrn gläubig erwartet. Gewähre uns, wir bitten dich, daß wir zu so großen Heiles Freuden gelangen, und sie in festlichen Gebeten allzeit fröhlich zu feiern vermögen.“
Es springt ins Auge, welcher Unterschied hier zwischen Original und offizieller Übersetzung besteht. Überdies ist die Banalität des zweiten Absatzes in seiner deutschen Fassung unübersehbar. Vollends aber versagt der deutsche Text, wenn es darum geht, die Oration feierlich vorzutragen, gar zu singen. Man kann schlechterdings die eleganten Kadenzen des lateinischen Cursus nicht ins Deutsche übertragen. Das gilt natürlich auch für die von uns hier gebotene Übersetzung. Es bleibt eine Lösung: Der Zelebrant singt das lateinische Original, und wer des Lateins nicht genügend mächtig ist, liest die sinn- bzw. wortgetreue Übersetzung. Sie ist, obgleich für den liturgischen Vollzug nicht geeignet, eine ausreichende Verständnishilfe. Zu Zeiten, da der „praktizierende Katholik“ sein Schott-Meßbuch zu diesem Zweck mit in die Kirche nahm bzw. sich schon zuvor die liturgischen Texte angesehen hatte, war das kein Problem.
Hinzu kommt ein anderes, eher pragmatisches Moment: Die sogenannten lebenden Sprachen unterliegen beständigem Wandel, befinden sich in stetem Fluß. Was heute adäquater Ausdruck eines religiösen Inhalts ist, kann morgen schon in die Nähe eines aktuellen, von der political correctness verurteilen „Unwortes“ gerückt, unerträglich erscheinen. Das aber würde bedeuten, daß nahezu jedes Jahrzehnt seiner neuen aktualisierten Übersetzung bedürfte. Für die Verlage liturgischer Bücher brächte das natürlich große Vorteile mit sich, langfristig sichere Aufträge wären zu erwarten. Dies aber wäre ganz und gar wirklichkeitsfremd. Einmal wäre ein ganzer Stab von Sprachanpassern unablässig mit der Vorbereitung der nächsten Meßbuchausgabe beschäftigt. Sodann wäre es für die einzelnen Kirchen finanziell unzumutbar, die in kurzen Abständen erscheinenden Neuausgaben des Meßbuchs anzuschaffen. Vor allem aber wäre es unmöglich, daß die liturgischen Texte in Gedächtnis und Gemüt der Gläubigen eindringen und so das religiöse Denken und das Beten prägen könnten. Diese Liturgie würde an ihrer Hektik und Kurzatmigkeit zugrunde gehen.
Die Unterscheidung zwischen dem bleibenden, offiziellen, liturgischen Latein und der jeweils aktualisierten muttersprachlichen Verständnishilfe ist doch wohl 195 ein probates Rezept, um diesen Schwierigkeiten zu entgehen. Nicht umsonst hat „der Schott“ bis hin zum 2. Vatikanum 67 (!) Auflagen erlebt. Generationen von Katholiken haben durch ihn die Liturgie der Kirche kennen, mitvollziehen und lieben gelernt. Dessen ungeachtet wird von den Gegnern der lateinischen Liturgiesprache unermüdlich der Einwand erhoben, sie werde, von einigen Lateinkundigen abgesehen, von niemandem verstanden. Dieses Argument hat Geschichte, zum wenigsten seit der Aufklärung, da man sagte: „Gebeth, Gesang, die Verwaltung der heil. Sakramente, kirchliche Ceremonien, die von Zeit zu Zeit verordneten Andachtsübungen, die Segnungen und alle andere Religionshandlungen haben die allgemeine und nothwendige Absicht: den Verstand der versammelten Christen mit neuen Religionskenntnissen zu bereichern, oder den schon erworbenen mehr Deutlichkeit und Lebhaftigkeit zu verschaffen, und in ihren Herzen die Gesinnungen der Reue … und der Liebe gegen Gott und den Nächsten zu gründen.“(Ludwig Busch, Liturgischer Versuch oder Deutsches Ritual für katholische Kirchen, Erlangen 1803).
Vollkommen klar, daß dieser (!) Zweck nur durch eine deutschsprachige Liturgie erreicht werden konnte. Zur gleichen Zeit jedoch setzte sich mit diesem Argument Johann Michael Sailer auseinander, den man zu den bedeutenden Überwindern der allzu verstandes- und vernunftseligen Aufklärung im katholischen Deutschland zählt. Zweifellos wünscht auch Sailer deutschsprachige Liturgie. Ebenso ist ihm aber auch klar, daß die Frage der liturgischen Sprache letzten Endes nicht entscheidend ist, denn: „Der Gottesdienst hat eine Grundsprache, eine Muttersprache, die weder lateinisch, noch deutsch, weder hebräisch noch griechisch, kurz: gar keine Wortsprache ist.“
Diese „Grundsprache“ des Gottesdienstes sieht Sailer im „Totalausdruck der Religion“. Das ist nun, im Jahre 1819, gewiß in die konkrete historische Situation hineingesagt, in welcher sich liturgisches Reformertum überschlug. Es ist dies aber auch eine sehr moderne Einsicht – heute spricht man von ganzheitlichem Erfassen, das weit mehr ist und in tiefere Schichten des Menschen eindringt als bloßes intellektuelles Verstehen. Wenn die Liturgiefeier in dem Leben und in dem ganzen Äußern des Menschen als authentischer „Totalausdruck der Religion“ erfahren wird, dann, meint Sailer, komme es auf die Sprache gar nicht mehr so sehr an. „Ich sage: dadurch, daß das Volk das Wort des Priesters verstehen kann, dadurch ist, in Hinsicht auf Liturgie, im Grunde soviel wie nichts gethan.“
Viel wichtiger sei vielmehr dies: „Wer also immer den öffentlichen Gottesdienst reformieren will, der fange damit an, daß er erleuchtete, gottselige Priester heranbilde.“
Denn: „Wenn du dem geistlosen Manne am Altar, anstatt eines lateinischen, ein deutsches Meßbuch unterschiebest, und ihn daraus seine Messe deutsch heruntersagen lässest, so wird er jetzt für das Volk, das sein Wort versteht, ein Scandal seyn, da er doch zuvor, als er die lateinische Messe gleich geistlos herunterlas, wenigstens mit dem Laute, den das Volk nicht verstand, die Andacht nicht zu stören vermochte.“ Es geht also beim wirklichen, ganzheitlichen Erfassen von Liturgie – und das gilt für die Wirklichkeit schlechthin – nicht nur um einen intellektuellen Vorgang. Schließlich besteht der Mensch nicht nur aus Verstand 196 und Willen, sondern auch aus Leib und Sinnen. Wenn dann – wir sprechen natürlich nicht von den biblischen Lesungen und der Predigt – in einer in sakraler Sprache gefeierten Liturgie nicht jeder einzelne Text verstanden wird, dann spricht doch das ganze Geschehen, dann sprechen Gesang, Gerät, Gewand und heiliger Raum, wenn immer sie dem heiligen Geschehen adäquaten Ausdruck geben, viel unmittelbarer die Tiefendimension des Menschen an, als dies „verständliche“ Worte vermögen. Dies ist, anders als zur Zeit Sailers, heute um so leichter möglich, als ja der Gottesdienstbesucher von den vielen deutschen Meßfeiern her den Aufbau des Geschehens und die gleichbleibenden Texte der Liturgie kennt, und darum dann, wenn er an einer lateinischen Messe teilnimmt, genau weiß, worum es sich handelt. Und, wie gesagt, es gibt ja die handliche Übersetzung des „Schott“.
Daß man die lateinische Liturgiesprache ablehnen müsse, weil sie nicht verstanden werde, ist also kein überzeugendes Argument, sintemalen ja die deutschsprachige Liturgie trotz aller Problematik der Übersetzung nicht abgeschafft werden soll. Nur sollte, wie auch das II. Vatikanum sagt, das Latein ebensowenig abgeschafft werden. Wie aber steht es mit der „participatio actuosa“, mit der tätigen Teilnahme der Gläubigen an der Liturgiefeier? Nun, das Konzil schreibt vor, daß die Gläubigen in der Lage sein sollten, die ihnen zukommenden Texte auch in lateinischer Sprache zu singen oder zu sprechen. Ist dies eine Überforderung? Denkt man wiederum daran, wie vertraut die Texte des Meßordinariums in ihrem Wortlaut sind, dann kann es doch nicht schwerfallen, sie hinter dem lateinischen Wortlaut wiederzuerkennen. Und: Wieviele englische bzw. amerikanische Schlager bzw. Lieder werden trotz ihrer Fremdsprachigkeit gern gesungen und verstanden? Schließlich bedeutet auch participatio actuosa wesentlich mehr als mitsprechen und mitsingen: Es geht vielmehr darum, daß der mitfeiernde Christ sich dieselbe innere Gesinnung der Opferhingabe an den Vater zu eigen macht, in der Christus seine Hingabe an den Vater vollzieht. Und dazu bedarf es in erster Linie jener von Johann Michael Sailer apostrophierten „Grundsprache des Gottesdienstes“.
Dem neuen lateinischen Meßbuch kommt unter diesem Gesichtspunkt nicht geringe Bedeutung zu. Auch in praktischer Hinsicht ist es notwendig: Der Priester auf Reisen in Ländern, deren Sprache ihm nicht geläufig ist, sollte die Möglichkeit haben, auch dort die hl. Messe zu feiern, ohne zu einer der Liturgie unwürdigen Sprachakrobatik gezwungen zu sein. Auch die immer zahlreicheren Fälle, in denen Priester aus Indien, Afrika etc. in deutschen Gemeinden Dienst tun, sind hier zu erwähnen. Statt einer unvollkommenen Aussprache des Deutschen in der Liturgie würde sich doch korrekt ausgesprochenes Latein als liturgiegemäßere Form empfehlen. Kurzum: Dem neuen Missale Romanum ist zu wünschen, daß es in jeder Sakristei zu finden sei.

PDF hier (S. 192-196)